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Tel Aviv: Bauhaus auf Israelisch

by Reesen Mag

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Ein Spaziergang zu den architektonischen Schätzen der „Weißen Stadt“.

„Wir sind Meister darin, alles so hinzubiegen, dass es passt“, erklärt Karl Walter, seines Zeichens Tourguide in Tel Aviv. Dieser pragmatische Vorsatz gilt auch für das wohl reichste Erbe der Stadt, die rund 4.000 Gebäude im Bauhaus- und internationalen Stil, denen Tel Aviv den Beinamen „Weiße Stadt“ zu verdanken hat. Einige der Architekten der zwischen 1928 und 1945 entstandenen Gebäude waren vor ihrer Vertreibung durch die Nazis Schüler des legendären Bauhauses in Weimar und Dessau, darunter Arieh Sharon, Shmuel Miestechkin, Shlomo Bernstein und Zeev Rechter. Sie folgten der Leitidee von bezahlbarem, schnörkellosem Wohnraum für alle und dem künstlerischen Leitsatz „Form folgt Funktion“. Allerdings standen sie auch vor der Herausforderung, die klimatischen Besonderheiten Tel Avivs zu berücksichtigen. Heraus kamen moderne Bauten mit Flachdächern, vertikalen Lichtleisten über den Treppenhäusern und großen Balkonen mit horizontalen Schlitzen in den Balustraden. 

Und die Bewohner bogen fleißig weiter. Sie verpassten den Häusern im Laufe der Jahre Klimaanlagen, Etagenaufbauten oder Kunststoffjalousien. Auf Renovierungen konnten sich die unterschiedlichen Wohnungseigentümer allerdings selten einigen, so dass an vielen Häusern der Putz bröckelte, die ehemaligen prachtvollen Eingangshallen verwahrlosten und die schattigen Gärten verwilderten.

Betörender Kontrast: Blauer Himmel und weißes Bauhaus.

Seit 2003 sind die Häuser unter dem Begriff „Weiße Stadt“ als „ein einzigartiges Phänomen der Geschichte der Modernen Architektur“ UNESCO-Welterbe. Und nicht viel länger ist es her, dass auch die Bewohner begannen, ein Bewusstsein für ihre architektonischen Schätze zu entwickeln. 

Leben in Denkmälern

„Wir leben in diesen Denkmälern und müssen uns den zeitlichen Veränderungen anpassen“, erklärt Sharon Golan, Direktorin des Denkmalschutz- und Architekturzentrums im Max-Liebling-Haus. Sie hat das White City Center (WCC, www.whitecitycenter.org) mitgegründet, das 2019, im 100. Jubiläumsjahr des Bauhauses in Dessau, hier eröffnete. Seitdem ist das 1936 von Architekt Dov Karmi entworfene Gebäude in der Idelson-Straße die erste Anlaufstelle für Architekturfans. Dort können sie Ausstellungen, Lesungen und andere Kulturveranstaltungen besuchen. Zusätzlich widmet sich das WCC der Forschung und Weiterbildung rund um das Bauhaus. Für Golan ist der Aufbau des vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit in Deutschland mitfinanzierten Zentrums „eine zeitgenössische Art, mit einem Denkmal umzugehen und der Austausch von Bildung eine Annäherung zwischen Israel und Deutschland.“

Ein weiterer zentraler Punkt für Architektur- und Designliebhaber ist das Bauhaus-Center in der Dizengoff-Straße. Besucher können einen Film über die Entstehung der Weißen Stadt anschauen und sich mit originellen Taschen und Bechern von israelischen Designern sowie Bauhaus-Büchern und Plakaten eindecken. Der ursprünglich aus der Schweiz stammende Dr. Mischa Gross leitet das Center und bietet seit 23 Jahren geführte Touren durch die Bauhaus-City an. 13 Stationen umfasst der Rundgang und zu jedem der Häuser hält Gross eine Erklärung bereit. Auch die Stadt Tel Aviv bietet „White-City“-Touren an: Interessierte können jeden Samstag spontan an einer kostenlosen Führung auf Englisch teilnehmen, Treffpunkt ist um 11 Uhr am Rothschild-Boulevard Nummer 46 beim Tourismusverband von Tel Aviv. Wer die Stadt lieber auf eigene Faust erkundet, leiht sich im Bauhaus-Center einen Audioguide aus. Verlaufen kann man sich in Tel Aviv kaum. Dank der Weitsicht des ersten Stadtplaners Sir Patrick Geddes Ende der 1920er-Jahre können sich Spaziergänger an den Hauptverkehrsachsen orientieren, die parallel zum Meer von Norden nach Süden verlaufen. Die kleineren Straßen und Alleen dagegen führen von Westen nach Osten und öffnen den Weg für eine angenehme Meeresbrise durch die Stadt.

Umwelt-Skulptur des israelischen Architekten Dani Karavan, die Tel Avivs Geschichte und Landschaft widerspiegelt, im Edith Wolfson Park in Tel Aviv.

Nur ein paar Meter vom Bauhaus-Center entfernt findet sich der erste architektonische Höhepunkt und das Herz Tel Avivs: Der Zina-Dizengoff-Platz, benannt nach der Frau des ersten Bürgermeisters Meir Dizengoff, mit dem ehemaligen Kino, das von dem Architekten Yehuda Magidovitch 1938 erbaut wurde und mittlerweile als Boutiquehotel Cinema nicht nur Bauhaus-Liebhaber beherbergt. Vor wenigen Jahren wurden die Gebäude rund um den Kreisverkehr des Platzes saniert und dieser in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Der Entwurf von 1934 stammt von der damals erst 25-jährigen Architektin Genia Awerbuch, die allen Häusern am Platz eine einheitliche Fassade mit konkaven Balkonen verpasste. Im ehemaligen Kino Esther bewundern die Hotelgäste heute das monumentale Treppenhaus mit der breiten Wendeltreppe und die Kino-Artefakte und Schaukästen, die von der einstigen Funktion des Hauses zeugen. Direkt gegenüber liegt das Center Hotel von 1948, mit dem der Architekt Haim Meshulam den konkaven Fassaden der anderen Gebäude rund um den Dizengoff-Platz folgte. Dort lohnt ein Besuch des Dachgartens mit Blick auf die architektonischen Perlen von oben. Keine zehn Minuten Fußweg entfernt, in Richtung Rothschild-Boulevard, empfängt die White Villa, ein Boutique-Hotel mit der Atmosphäre einer Privatresidenz, ihre Gäste. Das Anwesen wurde vom Architekten Samuel Barkai als urbanes Wohnhaus gebaut, inspiriert und beeinflusst von Le Corbusier.

Tel Avivs Prachtstraße: Der Rothschild Boulevard.

Am und rund um den Rothschild-Boulevard, die Prachtstraße vom Nationaltheater Habima im Norden bis zum szenigen Viertel Neve Tzedek im Südwesten, sind die Stars der Bauhaus-Architektur versammelt, wie das Rubinsky-Haus der Architekten L. Kranowski und E. Marcusfeld, das die Geburt des „israelischen Bauhauses“ symbolisiert. Es wurde 1935 entworfen und 2008 restauriert. Im Gegensatz zur ursprünglichen Bauhaus-Devise schmücken es Markisen, runde Fenster und abgerundete Terrassen ohne wirklich praktische Funktion. Über die beiden 1935 von Pinchas Hitt entworfenen Wohnblöcke des Yitzhaki-Hauses am Rothschild-Boulevard 89–91, die sich exakt spiegeln, geht es weiter zum 1933 von Zeev Rechter entworfenen Engel House auf Nummer 84. Als erstes Gebäude in Tel Aviv wurde dieses auf Säulen, so genannten Pilotis, errichtet, die für eine gute Belüftung sorgen. 

Dass viele Gebäude der Weißen Stadt mittlerweile saniert sind, verdankt Tel Aviv vor allem einer Frau: der Denkmalpflegerin und Architektin Nitza Metzger-Szmuk, die 1990 in der Stadtverwaltung eine Denkmalpflegeabteilung gründete. Sie war es auch, die die Ernennung der Weißen Stadt zum Welterbe ins Rollen brachte. „Ich kam zur richtigen Zeit mit dem richtigen Wissen und hatte Geduld“, erinnert sie sich. „Damals haben die Einwohner Tel Avivs die Bauhaus-Touristen noch ausgelacht.“ 2003 eröffnete Metzger-Szmuk, die Mitglied im Fachbeirat des White City Center (WCC) ist, ihr eigenes Architektenbüro, das sich auf Denkmalpflege spezialisiert hat. Neben der Sanierung historischer Häuser schafft sie auch neuen Wohnraum. „Das Leben ändert sich und wir auch“, erklärt Metzger-Szmuk. Nur die Atmosphäre Tel Avivs müsse bleiben: „Wichtiger noch als die Architektur ist der Spirit der Stadt – das Gefühl von Freiheit und Offenheit.“

Das Tor des Glaubens im Abrasha-Park in Jaffa, Tel Aviv.

Text: Susanne Freitag

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