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DIESE BUCHT IST EINE WUCHT

by Reesen Mag

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Zur Tag- und Nachtgleiche steigt das Meer am Mont Saint-Michel in Rekordhöhen. Wenige Stunden später legt die Ebbe eine Wattlandschaft aus Sandbänken, Flussläufen und Treibsand frei. Ein Spaziergang durch eine besonders bewegliche Bucht.

Schnell und stetig rauscht das Wasser in die Bucht. Von den Befestigungsmauern des Mont Saint-Michel aus schauen Besucher zu, wie die Flutwelle vorrückt, schließlich die Brücke unterspült und den Platz am Fuß des Bergs schrumpfen lässt. Still und fast ehrfürchtig stehen die Menschen oben. Das Naturphänomen wirkt heute womöglich ähnlich beeindruckend wie einstmals der Anblick des Pilgerziels nach langer und gefahrenreicher Wanderschaft, auf der letzten Etappe durch Sümpfe, Schlick und Treibsand. Unten überlegen Unentschlossene, ob sie zum Kloster oder zur Brücke ausweichen. Schon steht das Wasser knöchelhoch, die einen laufen nach links, die anderen nach rechts. Die Brücke, die Festland und Berg seit 2014 anstelle des Damms aus dem 19. Jahrhundert miteinander verbindet, endet nun im Wasser. Der Mont Saint-Michel ist eine Insel – für eine Stunde. 

Dass das seit 2014 mehrmals im Jahr wieder der Fall ist, ist das Ergebnis eines Projekts herkulischer Ausmaße. Zuvor war die Bucht so stark versandet, dass die Klosterinsel zu verlanden drohte. Mitte der 1990er Jahre wurde das 184 Millionen Euro teure Vorhaben zur „Wiederherstellung des maritimen Charakters“ des Bergs geplant und 2006 von Staat und Region auf den Weg gebracht. Der Damm nebst Parkplatz, der neben der Trockenlegung von Küstengebieten und der Kanalisierung des Couesnon zur Versandung der Bucht geführt hatte, wurde abgetragen, Schlamm aus der Bucht gebaggert und vor die Mündung des Couesnon eine Stauanlage gesetzt. Der Gezeitendamm lässt bei Flut zurückgehaltenes Meereswasser mit Druck ab und fegt so Sand und Sedimente aus der Bucht. Heute ist der Berg über die elegante, 760 Meter lange Stelzenbrücke zu erreichen – zu Fuß, per Shuttle-Bus oder mit der Pferdekutsche. Und gelegentlich rauscht auch die Flut wieder in die Bucht. 

Mit einem Tidenhub von regelmäßig über zwölf Metern besitzen die Gezeiten in der Bucht des Mont Saint-Michel reichlich Dramatik. Nirgendwo sonst in Europa bewegt sich das Meer so dynamisch. Nach Voll- und Neumond, wenn der Gezeitenkoeffizient – ein Wert zwischen 20 und 120, der vor allem in Frankreich verwendet wird, um die Differenz zwischen Niedrig- und folgendem Höchstwasserstand zu bezeichnen – über 90 liegt, wird die Flut besonders hoch. Sobald er 110 erreicht, ist der Berg zu Fuß nicht mehr erreichbar. In diesem Herbst verspricht der Gezeitenkalender dieses Phänomen für Oktober und November.

Dann steigt eine Flut aus dem Ärmelkanal auf, deren erste Welle den Mont Saint-Michel umspült und sich bis in den Couesnon schiebt. „Le Mascaret“ heißt sie und sieht von den Wehrmauern und Aussichtspunkten des Klosterbergs durchaus harmlos aus. Hoch ist sie nämlich nicht. Aber schnell. Flott trägt sie Kajaks, Jetski und Schlauchboote in die Bucht. Victor Hugo übertrieb nicht, als er das Tempo der einlaufenden Flut mit dem eines Pferds im Galopp verglich. Wattläufer, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben, müssen vor dem Wasser davonrennen. Immer wieder werden Wanderer aus der Luft vor den Fluten gerettet – trotz aller Warnungen, das Gelände nur in Begleitung eines Guides zu erkunden.

„Die Bucht ist flach und trichterförmig, und das Wasser kommt mit Wucht von der südenglischen Küste zurück“, erklärt Wattführer François Lamotte d‘Argy, als das Meer dreieinhalb Stunden später am Horizont verschwunden ist. Hinter ihm steigen die ersten Gruppen mit an die Rucksäcke gebundenen Schuhen barfuß ins Watt. Ihre Masken, die auf dem Berg Pflicht sind, nehmen sie ab – Abstand zu halten ist in der Bucht leicht. 

Auf dem linken Handrücken hat François wie immer die Uhrzeiten von Höchst- und Tiefststand notiert. In fließendem Deutsch begrüßt der Sohn einer deutschen Mutter und eines normannischen Vaters seine Gäste aus Deutschland und der Schweiz. Der 42-Jährige betreibt mit seiner Frau ein Hotel auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht in Dragey-Ronthon und arbeitet als Wattführer. 200 Tage des Jahres verbringt er mit den Füßen im Wasser und zeigt Urlaubern die Natur in der Bucht und die Klosterfestung aus ungewohnten Perspektiven. „Die Bucht ist für mich ein großer Spielplatz, aber sie ist auch erhebend für Geist und Seele“, sagt François. Kein Wunder, wacht über ihr doch eines der großen christlichen Pilgerziele. Auf Geheiß des Erzengels Michael persönlich erbaute Bischof Aubert von Avranches im 8. Jahrhundert auf dem Felsen im Meer ein Kirchlein. Nach der Übernahme des Bergs durch Benediktinermönche entstand hier im 10. Jahrhundert die komplizierteste und teuerste Baustelle des Mittelalters. Der Granitstein, der für den Bau von Kirche und Kloster benötigt wurde, musste von den Chausey-Inseln mit Booten auf den einen Kilometer vor der Küste gelegenen Felsen transportiert und auf dem nach oben spitz zulaufenden Gelände buchstäblich in die Höhe getürmt werden. 500 Jahre dauerte es, bis die Meisterwerke der Romanik und Gotik vollendet waren.

Der Einstieg wird rutschig, warnt François. Tatsächlich: Auf den ersten fünfzig Metern erfordert es Konzentration, auf den Beinen zu bleiben. Der frisch freigelegte Meeresboden ist glatt wie Schmierseife. Doch bald wird der Grund verlässlicher und es ist möglich, sich umzusehen. Es lohnt sich: An der einen Seite Unendlichkeit, an der anderen der mächtige Klosterfels und sein Spiegelbild im Schlick. Die schlanke, von der Bronzefigur des Erzengels Michael gekrönte Spitze der Klosterkirche ragt in einen fahlen Himmel. Von den Besuchermassen, die die wichtigste Sehenswürdigkeit Frankreichs außerhalb von Paris gewöhnlich heimsuchen, ist von hier aus nichts zu ahnen. 

François identifiziert Stelzvögel, Austernfischer, Stockenten, Regenpfeifer und Strandläufer und zeigt einen Fischadler am Himmel. Er weist seinem Grüppchen den Weg durch den ersten der beiden Flüsse, die bei Ebbe wie bei Flut in die Bucht fließen. Er weiß, wo eine Querung in Shorts möglich ist. Allerdings macht die Strömung das anspruchsvoll – der Fluss drängt in Richtung des entschwundenen Meeres, und es ist nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten. Jenseits des Flusses erscheint Tombelaine, die unbewohnte Nachbarinsel des Mont Saint-Michel. Einst wollte man hier ein Hotel bauen, heute ist sie ein Vogelschutzgebiet.

Für seine deutschsprachigen Gäste macht François eigens einen Sandwurm ausfindig. „Deutsche interessieren sich immer für Sandwürmer, das ist ein großes Thema an der Nordsee“, sagt er mit schalkhaftem Lächeln. „Wir nehmen das hier gar nicht so wahr.“ Ein zweiter, breiterer Fluss ist zu queren, François sucht nach einer flachen Stelle und geht voran. Wieder ist die Strömung stark, doch nach einigen beherzten Schritten durchs Wasser ist es geschafft. Weiter geht es über eine Sandbank und dann durch angenehm temperiertes, knöcheltiefes Wasser. François erzählt, dass er immer wieder Wanderer aus der Bucht treibt, die zu spät oder alleine unterwegs sind. Erst gestern begegnete er einem Paar, das ins Meer hinauslief, als er mit seiner Gruppe schon auf dem Rückweg war. Es gelang ihm, die beiden zur Umkehr zu bewegen. François schüttelt den Kopf über diesen Leichtsinn. 

Früher brachte auch Treibsand Pilger oft schon in Sichtweite des Ziels in tödliche Schwierigkeiten. François kennt die Stellen, an denen der Boden weich wie Pudding ist, und demonstriert, wie schnell man einsinkt. Zum Glück weiß er auch, wie man sich befreit: Er lässt sich weit nach vorne fallen und dann in die Gegenrichtung. Mit einigen Schwüngen befreit er sich. Nach drei Stunden und sieben Kilometern liefert er seine Wanderer wieder am Klosterberg ab. Bis zu den Knien mit grauem Schlick bedeckt erreichen sie festen Grund.

Autor: Stefanie Bisping

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