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Als wir Hippies waren

by Reesen Mag

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San Francisco ist die Heimat vieler Superreicher, das Leben in der einstigen Hippie-Metropole ist süß und teuer. Dabei ist die Sehnsucht nach Frieden, Liebe und Flower Power groß. Eine „Love Tour“ im VW-Bulli bringt ein Stück Vergangenheit zurück.

„Here comes the sun“ von den Beatles klingt aus den Boxen. Es hilft: Der Morgennebel über der San Francisco Bay lichtet sich. Zwischen den Harmonien sprudelt Tourguide Allan Graves Informationen über die Stadt hervor, in der der in Costa Rica geborene Sohn eines Kanadiers und einer Nicaraguanerin fast sein ganzes Leben verbracht hat und die er genauso liebt wie die Musik der Hippie-Ära. Eine weitere Leidenschaft sind alte VW-Bullis. Fast im Schritttempo klettert sein mit Porträts von Janis Joplin und Carlos Santana sowie einem Bild der Golden Gate Bridge verzierte Bulli den steilen Russian Hill hinauf. Durch Seitenstraßen öffnet sich der Blick auf die Bucht, im Dunst ist gar die Insel Alcatraz zu erahnen.

Oben zeigt sich: Die Schwerkraft ist der Freund des Oldtimers. Mit Schwung geht es die Serpentinen der Lombard Street hinab, während Otis Redding „Sittin’ on the dock of the bay“ singt. Draußen bleiben Menschen stehen, winken und tasten nach ihren Smartphones, um den bunten Bus „Sunshine“ zu fotografieren.

Die Teilnehmer der „Love Tour“ schauen sich nicht nur Sehenswürdigkeiten an, „Sunshine“ macht sie selbst zur Attraktion. Am Steuer erzählt Allan, wo Baseball-Legende und Monroe-Gatte Joe DiMaggio zur High School ging, welche Straßenzüge beim Großen Beben 1906 von Feuer und Zerstörung verschont blieben und was als bester Ort in den USA gilt, um Bekanntschaften zu machen – eine sommers von Yogamatten übersäte Wiese an der Marina Road, nicht zufällig eine der teureren Gegenden in der teuren Stadt. Dann erteilt er Scott McKenzie das Wort: „If you‘re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair“, singt der. Als ob es so einfach wäre.

Die Golden Gate Bridge überspannt seit 1937 die San Francisco Bay und gehört zu den ikonischen Attraktionen Kaliforniens.

Allan Graves ist nicht nur Guide, sondern auch Betreiber der „Love Tours“. Er studierte Internationale Beziehungen und arbeitete im Bereich Finanzdienstleistungen und Technologie. „Wie jeder in San Francisco“, sagt der 44-Jährige und lacht. Er langweilte sich, während das Leben das Tempo anzog. „Meine Tochter ging aufs College, mein Hund starb und meine Freundin trennte sich von mir. Da habe ich gedacht, ich muss zurück zu den Dingen, die ich liebe.“ Das waren alte Autos. Allan begann nach VW-Bussen aus den Siebzigerjahren zu suchen und überlegte, was er mit ihnen anstellen könnte. Er forschte nach touristischen Touren mit Bulli – in San Francisco, in Kalifornien, auf der Welt. Es gab keine. Mit seinem Bruder kaufte er erst den VW-Bus „Love“, Baujahr 1972 mit Automatikgetriebe, und ersteigerte dann den zweiten, „Sunshine“, aus dem Jahr 1976. Sie bauten Oberlichter ins Dach und baten die Künstlerin Madison Tomsic, die Busse mit ikonischen Motiven aufzupeppen. Allan ließ sich zum Guide ausbilden. 2014 starteten er und sein Bruder die „Love Tours“, ein Jahr später waren die Hippie-Bustouren bereits Vollzeitjobs. Bald besaß das Unternehmen acht umgestaltete alte Busse und beschäftigte zwanzig Angestellte.

Stadttouren per E-Bike

Touristen, die es luftiger lieben, sind bei Nick Hormuth richtig. Der 37-Jährige bietet Stadttouren per E-Bike an, die den Radlern in der hügeligen Stadt den nötigen Schwung verleihen. Sein kleiner, mit einem Plattenspieler ausgestatteter und mit Sombreros dekorierter Bike Shop ist Herzstück des Unternehmens, das er vor acht Jahren gründete. Nick fährt fast jede Tour selbst und zeigt den Teilnehmern alles, was die Stadt für Insider ausmacht – von der „La Palma Tortilla Factory“ im von Wandgemälden geschmückten Viertel The Mission bis zum Bernal Hill, wo sich ein traumhafter Blick auf San Francisco öffnet.

Viktorianische Fassaden vor der Kulisse des postmodernen San Francisco: Die gepflegten „painted ladies“ gehören zu den Foto-Hotspots der Stadt.

Allan Graves deutet derweil am Union Square auf eine unlängst ausgeräumte Louis-Vuitton-Filiale und klagt über den im vergangenen Juli abgewählten Bezirksstaatsanwalt Chesa Boudin. Der 1980 geborene Yale- und Oxford-Absolvent verzichtete auf Untersuchungshaft, wenn keine Gefährdung der Allgemeinheit vorlag. Denn Boudin glaubte nicht an Haftstrafen. Seine Eltern waren Mitglieder der radikalen Organisation Weather Underground. Nach der Beteiligung an einem Raubüberfall in New York 1981, bei dem zwei Polizisten und ein Wachmann getötet worden waren, verbrachten sie Jahrzehnte im Gefängnis. Chesa Boudin, Enkel des Anwalts Leonard Boudin, zu dessen Klienten die kubanische Revolutionsregierung gehörte, trat bei der Wahl 2019 mit dem expliziten Ziel an, Massenhaft zu beenden und stattdessen die Wurzeln der Kriminalität zu bekämpfen: Drogensucht, psychische Erkrankungen, soziale Probleme. Zu Beginn der Pandemie entließ er fast die Hälfte der Inhaftierten der Stadt. Fortan blickte das Law and Order liebende Land mit wohligem Gruseln auf die Verrückten im Westen. Doch auch den Bewohnern der Stadt ging es schließlich zu weit, 55 % stimmten im Sommer 2022 gegen ihn.

Soziale Kontraste

Kalifornien ist Heimat der meisten Milliardäre in den USA. Der Großteil der kalifornischen Superreichen lebt in San Francisco, der Heimat von Facebook, Twitter, Uber und anderen florierenden Tech-Unternehmen. 39 Milliardäre zählt das Magazin Forbes in der 880.000-Einwohner-Stadt, andere kommen auf 41 oder sogar 77 – mehr gibt es nur in New York City, wo indes zehn Mal so viele Menschen leben.

Fünf Millionen im Jahr spenden die Bewohner der Stadt für Obdachlose, von denen es hier ebenfalls besonders viele gibt. Mehr als achttausend Menschen sollen permanent ohne festen Wohnsitz sein; auch das ist Rekord. „All you need is love“ ertönt aus den Boxen, als Allan in die Straße Tenderloin einbiegt. Allerdings sei nichts Zartes an der Gegend, warnt er; vielmehr stehe sie trotz einiger Galerien und Wandbilder namhafter Künstler im Ruf, sich jeder Gentrifizierung zu entziehen. Die meisten Nichtsesshaften haben eine Handvoll Straßen rund um diese Verkehrsader zu ihrer Heimat gemacht. Zwei Drittel, glaubt Allan, seien ehemalige Pflegekinder – sobald sie volljährig würden und die Familien kein Geld mehr für ihren Unterhalt erhielten, würden viele auf die Straße gesetzt. Doch die Gründe für die Probleme liegen nicht allein an den luftigen Maschen des sozialen Netzes im Land der Freiheit. Das Leben ist teuer in San Francisco, schon eine kleine Wohnung kostet leicht dreitausend Dollar Miete im Monat. Dafür muss ein Uber-Fahrer – rund 50.000 verstopfen die Straßen San Franciscos – sehr viele Touren machen. Zwei Mahlzeiten erhalten Nichtsesshafte am Tag und, wenn sie wollen, auch eine Bleibe für die Nacht. Doch das helfe nicht, ihre Situation zu verändern. Sie seien „like a rolling stone“, seufzt Allan und dreht das Lied von Bob Dylan auf.

Die weltbekannte ehemalige Gefängnisinsel Alcatraz in der Bucht von San Francisco.
Im Wandel der Zeit

Den Weg zur Golden Gate Bridge säumen bei der Love Tour auch Romanzen. Frida Kahlo und Diego Rivera heirateten im Rathaus – dem größten des Landes, dessen Kuppel die des Kapitols in Washington um 35 Zentimeter überragt – 1940 zum zweiten Mal, Marilyn Monroe und Joe DiMaggio schlossen hier 1954 einen Bund für einige Monate. Eigentlich wollten sie sich in der Kirche Saints Peter and Paul am Washington Square trauen lassen, sagt Allan. Doch der Priester erklärte ihnen, dass sie bereits verheiratet seien und zu ihren Ehepartnern zurückkehren sollten. Bei der Fahrt durch den grünen Stadtteil The Presidio, einst Militärstützpunkt und heute eine Parklandschaft mit Wohnhäusern, Walt-Disney- und Star-Wars-Memorabilia-Museum, bricht die Sonne durch den Nebel. Außer den orange-roten Pfeilern und Türmen der 1937 eröffneten Brücke sind jetzt sogar Pelikane und in Ufernähe schnaufende Robben zu erkennen. Die Tour endet zu den Klängen von „Hotel California“ im Viertel Haight-Ashbury, dem Zentrum der Hippie-Kultur der Sechziger. Weil es von den Bränden nach dem Großen Beben verschont blieb, sind hier noch Häuser aus dem 19. Jahrhundert erhalten. Schön renoviert und mit Boutiquen und Cafés im Parterre lassen sie erahnen, wie viel Wasser seit dem Summer of Love durch die San Francisco Bay geflossen ist. In der Haight Street wohnte einst Jimi Hendrix. Schräg gegenüber war Janis Joplin im rosa Haus Nummer 635 an der Ashbury Street zuhause, ganz in der Nähe lebten der Begründer der Hell’s Angels und Jerry Garcia, Leader der Band Grateful Dead. Die heutige Bewohnerin hat eigens ein Tor installiert, um Pilger und Hippies auf Distanz zu halten. Das Schild eines Hauses an der Haight Street ist noch deutlicher: „Hippies use back door“ ist darauf zu lesen. Hippies durch die Hintertür. Heute gehört Haight-Ashbury den Hipstern.

Wie eine Schlange im Grünen: Die Serpentinen der berühmten Lombard Street.

Text: Stefanie Bisping

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